ESSAY von / by Ludwig Seyfarth


Künstler als Bildersammler


Es gibt kaum etwas, was nicht gesammelt wird: Briefmarken, alte Münzen, Porzellanelefanten, Kuckucksuhren oder Barbiepuppen. Die einzelnen Exemplare seiner Kollektion sucht, findet, erwirbt der Sammler über Jahre oder Jahrzehnte hinweg, manchmal durch systematische Recherche, manchmal durch ganz zufällige Entdeckungen. Es widerspricht jedoch dem Sammeln und kommt gewöhnlich auch nicht vor, dass der Sammler die Dinge seiner Sammlung selbst herstellt. Wenn ein Schuster Schuhe sammelt, dann nicht die von ihm gefertigten, sondern vielleicht historische Schuhe aus dem 18. Jahrhundert, wie sie längst nicht mehr produziert werden.

Auch Kunst wird seit langer Zeit gesammelt. Die umfangreichsten Sammlungen waren lange Zeit die Kunst- und Wunderkammern, in denen Objekte unterschiedlichster Art zusammenkamen, darunter auch Gemälde und Skulpturen. Zunehmend entstanden auch Sammlungen, die sich auf Bilder konzentrierten. Fürsten oder reiche Privatleute legten große Sammlungen von Gemälden an. Wer nur über einen kleineren Geldbeutel verfügte, spezialisierte sich auf Zeichnungen oder auf Grafik. Das Sammeln von Grafiken konnte sich wiederum auf ein Spezialgebiet konzentrieren, das im 18. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte: Stiche nach Gemälden und anderen Meisterwerken der Kunst.

Als ich begann, mich für Kunst zu interessieren, wurde ich schnell zu einem Nachfahren letzterer Sammlerkategorie. Ich sammelte keine Stiche, sondern Kunstpostkarten, von denen ich heute weit über 10 000 besitze. Heute reicht mir das, früher aber hat es mich sehr gewurmt, wenn das ein oder andere geliebte Kunstwerk fehlte. Zunächst begann ich, mit meinem bescheidenen Zeichentalent Abbildungen aus Büchern abzupausen oder nachzumalen, was ich aber schon in der Pubertät reichlich kindisch fand. Fotografieren konnte ich auch nie besonders gut, aber manche eigenen, unterbelichteten oder farbstichigen Fotos, vom Original im Museum aufgenommen, landeten zeitweilig in der Sammlung, bis auch sie ausgemustert wurden. Gut gemachte Fotos hätten jedoch durchaus den Status vollwertiger Sammelobjekte erhalten können. Schließlich ist die Kunstpostkarte eines der unzähligen Folgeprodukte der Erfindung der Fotografie. Kunstwerke können einfach aufgenommen, beliebig oft reproduziert und unabhängig von der Größe des Originals in gleichem Format nebeneinandergestellt werden, was André Malraux als ein Imaginäres Museum ansah.
Nach Walter Benjamins schöner Formulierung schärft die Fotografie den Sinn fürs Gleichartige. Durch das Nebeneinanderstellen von Fotos und auf Fotos beruhenden Abbildungen aus unterschiedlichen Quellen tritt so etwas wie gleichartige Struktur in den Blick. Darauf beruht eines der komplexesten imaginären Museen, die je ersonnen wurden: der berühmte Bilderatlas Mnemosyne, den der Hamburger Kulturwissenschaftler Aby Warburg bei seinem Tod 1929 unvollendet hinterließ. Durch Zusammenstellung zahlreicher thematischer Tableaus versuchte Warburg, bestimmte gegenständliche Motive, Gesten oder Details, etwa die bewegte Linienführung bei auf Gemälden dargestellter Kleidung, als eine Art soziales Gedächtnis über Epochen und Kulturen hinweg zu verfolgen. Wenn ein gleiches Motiv an ganz unterschiedlichen Orten auftaucht, stellen sich unerwartete Verwandtschaften zwischen Gleichartigkeiten her. Andererseits wandeln sich Motive, kann die gleiche Geste ihre Bedeutung im Laufe der Zeit bis hin zur vollständigen Inversion verändern. So schärft sich auch der Sinn für das Ungleichartige, indem im scheinbar Identischen auch immer wieder Differenzen sichtbar werden.
Warburg selbst sah sich als Wissenschaftler und nicht als Künstler, auch wenn ihn die kunsthistorische Forschung manchmal dahingehend interpretiert. Als kulturwissenschaftlicher Forscher wurde Warburg zum Bilder-Sammler und vielen erscheint er als Vorläufer späterer Künstler, deren Werk auf Sammlungen beruht. Insbesondere scheint der Mnemosyne-Atlas auf eine Kunstrichtung oder –gattung vorauszuweisen, die sich seit den 1960er Jahren zunehmend etabliert hat und die eigentlich darin besteht, Formen der Ausstellung für gesammeltes Material zu entwickeln. Wenngleich auch Gegenstände verschiedenster Art in akkumulativer Form zu materialreichen Tableaus oder Installationen versammelt werden, etwa schon um 1960 von den Nouveaux Réalistes in Frankreich, ist der Bezug zu Warburgs Atlas vor allem bei einer sich in verschiedensten Formen artikulierenden Tendenz sinnfällig herzustellen, die man grob als Fotosammlung etikettieren könnte. Gefundene, aus Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern ausgeschnittene, von den Künstlern selbst aufgenommene oder, seitdem es das Internet gibt, auch aus dem digitalen Universum entnommene Fotografien beziehungsweise reproduzierte Fotografien werden in streng seriellen oder auch in äußerst ungewöhnlichen Zusammenstellungen und Anordnungen präsentiert.
Das Spektrum reicht etwa von Bernd und Hilla Bechers systematischer fotografischer Achivierung ausgedienter Industriearchitektur, der Section Publicité zum Motiv des Adlers im fiktiven Museum für moderne Kunst von Marcel Broodthaers, Gerhard Richters umfangreicher Fotosammlung Atlas oder Christian Boltanskis fiktiver fotografischer Rekonstruktion seiner eigenen Kindheit bis zu Hans-Peter Feldmanns Zuwendung zur alltäglichen Fotoproduktion von Laien.
Viele Künstler seien, wie Wolfgang Ullrich im Nachwort zu einem Band mit Texten des Kunstsammlers Harald Falckenberg schreibt, längst auch Sammler (und Konsumenten) geworden: Statt selbst Bildwerke zu produzieren, verwenden sie bereits vorhandenes Material (found footage), um es neu zu arrangieren, nachträglich zu bearbeiten oder in überraschende Kontexte zu bringen.[1]
Dies gilt insbesondere für die amerikanische Appropriation Art, welche die Aneignung fremden Bildmaterials um 1980 zur programmatischen postmodernen Subversion herkömmlicher Modelle der Originalität und Autorschaft weiterentwickelte. Wenn etwa Richard Prince für seine Refotografien klischeehafte Werbebilder wie den Marlboro-Cowboy oder sexistische Abbildungen aus Motorradzeitschriften verwendete, sieht Stefan Römer dies auch als Resultat einer schon medial geprägten Biografie: Prince spricht stellvertretend für die erste Generation, die mit dem Medium Fernsehen aufgewachsen ist. Er meint, dass die Menschen zu den entsubjektivierten Darstellungen in den Medien ein engeres persönliches Verhältnis entwickelt hätten als zu den für sie unerreichbaren originalen Persönlichkeiten im alltäglichen Umfeld. Die Medienimages sind für ihn die wirklichen Originale.[2]
Auch wenn Prince den Mnemosyne-Atlas sicher nicht gekannt hat, macht Römer in seinen Tableaus direkte Parallelen zu Warburgs Vorgehen aus: Prince wendet eine Art ‘praktischer Ikonologie’ an, und die situiert ein Bild oder ein Bildfragment immer in einem Kontext, der die Bezüge zu anderen Bildern und Texten befragt. Das erinnert unmittelbar an den ‘Bilderaltlas’ von Aby Warburg. Die strukturelle Verwandtschaft zu Warburg äußert sich darin, dass beide – anders als traditionelle Kunstkenner – unterschiedslos mit Abbildungen der Populärkultur sowie der Kunst arbeiten.[3]
Heute erscheint das selbstverständlich, aber die Einebnung der Unterschiede von High und Low wurde einst als ebenso skandalös empfunden wie die Tatsache, dass Marcel Duchamp seine Ready Mades nicht selbst hergestellt hat. Mittlerweile konnten Künstler wie Fischli & Weiss die Kunstwelt dadurch irritieren, dass sie scheinbar gesammelte Objekte aufwändig selbst herstellten. Boris Groys schreibt: Die Freiheit des Künstlers wurde traditionell als Fähigkeit verstanden, neue Formen in die Welt zu setzen, und wurde deswegen höher eingeschätzt als etwa die Freiheit eines reichen Sammlers, schon existierende Bilder zu appropriieren, das heißt zu kaufen. Der Künstler der Appropriation gibt seine künstlerische Freiheit der Kreation auf und tauscht sie ein gegen die minderwertige Freiheit des Sammelns.[4] Aber dass Künstler diese scheinbar geringe Freiheit immer mehr schätzen, ist schon deshalb eine folgerichtige Entwicklung, weil Kunstsammler heutzutage fast mehr Anerkennung genießen als die Künstler selbst.


Artists as Image Collectors
There is hardly anything that isn’t collected: stamps, old coins, porcelain elephants, cuckoo clocks or Barbie dolls. Collectors seek out, find and acquire the individual items of their collections over years or decades, sometimes through systematic research, sometimes through chance discoveries. But it is contradictory to collecting, and doesn’t usually occur, when a collector produces the collected items himself. If a shoemaker collects shoes he has not made, then perhaps historical shoes from the eighteenth century, long since out of production.
Art has also been collected for a long time. The most extensive collections were for many years art and curiosity cabinets, in which a wide variety of objects were brought together, including paintings and sculptures. Gradually, collections focusing on pictures came about. Princes or wealthy private citizens built up large collections of paintings. Those with smaller budgets specialised in drawings or prints. The collection of prints could itself concentrate on a specialist field: engravings after paintings and other artistic masterpieces.
When I began to become interested in art I quickly became a descendent of this last category. I didn’t collect engravings but art postcards, of which I now possess well over 10,000. This is enough for me today, but it used to rankle very much if one or another beloved artwork was missing. With my modest talent for drawing I initially began tracing or copying reproductions from books, something I found pretty childish in my adolescence.
I was never a particularly good photographer, but some of my own underexposed or colour-casted photographs, taken in museums from the original, ended up in the collection for a while, before being withdrawn. Well-made photographs, however, could achieve the status of fully fledged collector’s items. Ultimately, the art postcard is one of the countless results of the invention of the camera. Artworks can be simply photographed, reproduced any number of times and placed side by side in the same format independently of the size of the original; Andreé Malraux saw this as an ‘imaginary museum’.
As Walter Benjamin nicely put it, photography sharpens the ‘sense of similarity’. Through placing photographs and reproductions based on photographs from various sources side by side, something like similar structure comes into view. This is fundamental to the most complex ‘imaginary museum’ ever conceived: the famous visual atlas Mnemosyne, which the Hamburg cultural scientist Aby Warburg left unfinished on his death in 1929. Through the compilation of numerous thematic tableaux Warburg attempted to follow particular depictive motifs, gestures or details – such as the animated lines in the painted portrayal of clothing – as a kind of social memory across epochs and cultures. When the same motif appears in quite different places, unexpected relationships arise between similarities. On the other hand motifs change, and the same gesture can alter its significance over time, even to the point of complete inversion. So the sense of dissimilarity is also sharpened through differences being revealed in the apparently identical.
Warburg saw himself as an academic and not as an artist, even though art historians sometimes interpret him in this way. As a cultural researcher, Warburg became a collector of images, and he is seen by many as a forerunner of later artists whose work is based on collections. The Mnemosyne atlas, in particular, seems to point the way towards an art movement or genre that has gradually established itself since the 1960s and in fact consists in developing forms for the exhibition of collected material. Although objects of very different kinds are accumulated into rich tableaux or installations, as with the nouveaux réalistes in France as early as 1960, the connection to Warburg’s atlas should obviously be made in relation to a tendency that is articulated in a wide variety of forms and can roughly be labelled the ‘photographic collection’. Found photographs or reproductions of photographs cut out of newspapers, magazines or books, taken by the artists themselves or, since the advent of the Internet, drawn from the digital universe are presented in strict seriality or in highly unusual combinations and arrangements.
The spectrum ranges from Bernd and Hilla Becher’s systematic photographic archiving of disused industrial buildings, the Section Publicité on the motif of the eagle in Marcel Broodthaers’ bogus museum of modern art, Gerhard Richter’s extensive collection of photographs, Atlas, or Christian Boltanski’s fictive photographic reconstruction of his own childhood to Hans-Peter Feldmann’s devotion to the everyday photographic output of amateurs.
Many artists, as Wolfgang Ullrich writes in his afterword to a book of texts by the art collector Harald Falckenberg, have ‘also long since become collectors (and consumers)’: ‘instead of producing images, they use found footage, rearranging it, additionally processing it or putting it in surprising contexts.’[5]
This particularly applies to American appropriation art, which around 1980 further developed the adoption of ‘foreign’ visual material into a programmatic ‘post-modern’ subversion of traditional models of originality and authorship. When Richard Prince, for example, uses clichéd commercial images such as the Marlboro cowboy or sexist reproductions from motorcycle magazines for his ‘re-photographs’, Stefan Römer sees this as the result of a biography already influenced by the media: ‘Prince speaks for the first generation that grew up with the medium of television. He says that people have developed a closer personal relationship to the de-subjectivised portrayals in the media than to the unreachable real personalities in their everyday environment. For him, media images are the real originals.’[6]
Even though Prince certainly didn’t know the Mnemosyne atlas, Römer sees direct parallels to Warburg’s procedure in his tableaux: ‘Prince makes use of a kind of “practical iconology”, and this always situates an image or visual fragment in a context that questions its relationship to other images and texts. This directly recalls Aby Warburg’s “visual atlas”. The structural relationship to Warburg is expressed in the fact that – unlike traditional art connoisseurs – neither practitioner discriminates between reproductions from popular culture or art.’[7]
Today it seems obvious, but the levelling of the differences between highbrow and lowbrow was once felt to be as scandalous as the fact that Marcel Duchamp didn’t produce his ready-mades himself. Meanwhile artists like Fischli & Weiss have annoyed the art world by elaborately producing objects that look as if they had been collected. Boris Groys writes: ‘The freedom of the artist is traditionally understood as the ability to put new forms into the world, and for this reason it was valued more highly than the freedom of a wealthy collector, for example, to appropriate, that is to purchase, already existing images. The artists of appropriation abandons their artistic freedom in exchange for the more inferior freedom to collect.’[8] That artists are increasingly coming to value this apparently lesser freedom is a logical development of the fact that today’s art collectors enjoy perhaps even more recognition than the artists themselves.

Translation: Michael Turnbull





[1]Harald Falckenberg: Aus dem Maschinenraum der Kunst –  Aufzeichnungen eines Sammlers. Hamburg 1987, p. 351.
[2]Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Fälschung und Original. Köln 2000, p. 135.
[3]Ebd, p. 146.
[4]Boris Groys: Der Selbst-Sammler, in: ders., Kunst-Kommentare. Wien 1997 pp. 117 – 130, hier: p. 118.
[5] Translated from Harald Falckenberg, Aus dem Maschinenraum der Kunst. Aufzeichnungen eines Sammlers, Hamburg 1987, p. 351.
[6]Translated from Stefan Römer, Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Fälschung und Original, Cologne 2000, p. 135.
[7]Translated from ibid., p. 146.
[8]Translated from Boris Groys, ‘Der Selbst-Sammler’, ibid., Kunst- Kommentare, Vienna 1997, pp. 117–130: 118.