Künstler als
Bildersammler
Es gibt kaum etwas, was nicht
gesammelt wird: Briefmarken, alte Münzen, Porzellanelefanten, Kuckucksuhren
oder Barbiepuppen. Die einzelnen Exemplare seiner Kollektion sucht, findet,
erwirbt der Sammler über Jahre oder Jahrzehnte hinweg, manchmal durch
systematische Recherche, manchmal durch ganz zufällige Entdeckungen. Es
widerspricht jedoch dem Sammeln und kommt gewöhnlich auch nicht vor, dass der
Sammler die Dinge seiner Sammlung selbst herstellt. Wenn ein Schuster Schuhe
sammelt, dann nicht die von ihm gefertigten, sondern vielleicht historische
Schuhe aus dem 18. Jahrhundert, wie sie längst nicht mehr produziert werden.
Auch Kunst wird seit langer Zeit
gesammelt. Die umfangreichsten Sammlungen waren lange Zeit die Kunst- und Wunderkammern,
in denen Objekte unterschiedlichster Art zusammenkamen, darunter auch Gemälde
und Skulpturen. Zunehmend entstanden auch Sammlungen, die sich auf Bilder
konzentrierten. Fürsten oder reiche Privatleute legten große Sammlungen von
Gemälden an. Wer nur über einen kleineren Geldbeutel verfügte, spezialisierte
sich auf Zeichnungen oder auf Grafik. Das Sammeln von Grafiken konnte sich
wiederum auf ein Spezialgebiet konzentrieren, das im 18. Jahrhundert
Hochkonjunktur hatte: Stiche nach Gemälden und anderen Meisterwerken der Kunst.
Als ich begann, mich für Kunst zu
interessieren, wurde ich schnell zu einem Nachfahren letzterer
Sammlerkategorie. Ich sammelte keine Stiche, sondern Kunstpostkarten, von denen
ich heute weit über 10 000 besitze. Heute reicht mir das, früher aber hat es
mich sehr gewurmt, wenn das ein oder andere geliebte Kunstwerk fehlte. Zunächst
begann ich, mit meinem bescheidenen Zeichentalent Abbildungen aus Büchern
abzupausen oder nachzumalen, was ich aber schon in der Pubertät reichlich
kindisch fand. Fotografieren konnte ich auch nie besonders gut, aber manche
eigenen, unterbelichteten oder farbstichigen Fotos, vom Original im Museum
aufgenommen, landeten zeitweilig in der Sammlung, bis auch sie ausgemustert
wurden. Gut gemachte Fotos hätten jedoch durchaus den Status vollwertiger
Sammelobjekte erhalten können. Schließlich ist die Kunstpostkarte eines der
unzähligen Folgeprodukte der Erfindung der Fotografie. Kunstwerke können
einfach aufgenommen, beliebig oft reproduziert und unabhängig von der Größe des
Originals in gleichem Format nebeneinandergestellt werden, was André Malraux
als ein Imaginäres Museum ansah.
Nach Walter Benjamins schöner
Formulierung schärft die Fotografie den
Sinn fürs Gleichartige. Durch das Nebeneinanderstellen von Fotos und auf
Fotos beruhenden Abbildungen aus unterschiedlichen Quellen tritt so etwas wie
gleichartige Struktur in den Blick. Darauf beruht eines der komplexesten imaginären Museen, die je ersonnen
wurden: der berühmte Bilderatlas Mnemosyne,
den der Hamburger Kulturwissenschaftler Aby Warburg bei seinem Tod 1929
unvollendet hinterließ. Durch Zusammenstellung zahlreicher thematischer
Tableaus versuchte Warburg, bestimmte gegenständliche Motive, Gesten oder
Details, etwa die bewegte Linienführung bei auf Gemälden dargestellter
Kleidung, als eine Art soziales Gedächtnis über Epochen und Kulturen hinweg zu
verfolgen. Wenn ein gleiches Motiv an ganz unterschiedlichen Orten auftaucht,
stellen sich unerwartete Verwandtschaften zwischen Gleichartigkeiten her. Andererseits
wandeln sich Motive, kann die gleiche Geste ihre Bedeutung im Laufe der Zeit
bis hin zur vollständigen Inversion
verändern. So schärft sich auch der Sinn für das Ungleichartige, indem im
scheinbar Identischen auch immer wieder Differenzen sichtbar werden.
Warburg selbst sah sich als
Wissenschaftler und nicht als Künstler, auch wenn ihn die kunsthistorische
Forschung manchmal dahingehend interpretiert. Als kulturwissenschaftlicher
Forscher wurde Warburg zum Bilder-Sammler und vielen erscheint er als Vorläufer
späterer Künstler, deren Werk auf Sammlungen beruht. Insbesondere scheint der
Mnemosyne-Atlas auf eine Kunstrichtung oder –gattung vorauszuweisen, die sich
seit den 1960er Jahren zunehmend etabliert hat und die eigentlich darin
besteht, Formen der Ausstellung für gesammeltes Material zu entwickeln.
Wenngleich auch Gegenstände verschiedenster Art in akkumulativer Form zu
materialreichen Tableaus oder Installationen versammelt werden, etwa schon um
1960 von den Nouveaux Réalistes in Frankreich, ist der Bezug zu Warburgs Atlas
vor allem bei einer sich in verschiedensten Formen artikulierenden Tendenz
sinnfällig herzustellen, die man grob als Fotosammlung
etikettieren könnte. Gefundene, aus Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern
ausgeschnittene, von den Künstlern selbst aufgenommene oder, seitdem es das
Internet gibt, auch aus dem digitalen Universum entnommene Fotografien
beziehungsweise reproduzierte Fotografien werden in streng seriellen oder auch
in äußerst ungewöhnlichen Zusammenstellungen und Anordnungen präsentiert.
Das Spektrum reicht etwa von Bernd
und Hilla Bechers systematischer fotografischer Achivierung ausgedienter
Industriearchitektur, der Section Publicité zum Motiv des Adlers im fiktiven Museum für moderne Kunst von Marcel
Broodthaers, Gerhard Richters umfangreicher Fotosammlung Atlas oder Christian Boltanskis fiktiver fotografischer
Rekonstruktion seiner eigenen Kindheit bis zu Hans-Peter Feldmanns Zuwendung
zur alltäglichen Fotoproduktion von Laien.
Viele Künstler seien, wie Wolfgang
Ullrich im Nachwort zu einem Band mit Texten des Kunstsammlers Harald
Falckenberg schreibt, längst auch Sammler
(und Konsumenten) geworden: Statt
selbst Bildwerke zu produzieren, verwenden sie bereits vorhandenes Material
(found footage), um es neu zu arrangieren, nachträglich zu bearbeiten oder in
überraschende Kontexte zu bringen.[1]
Dies gilt insbesondere für die
amerikanische Appropriation Art, welche die Aneignung fremden Bildmaterials um 1980 zur programmatischen postmodernen Subversion herkömmlicher
Modelle der Originalität und Autorschaft weiterentwickelte. Wenn etwa Richard
Prince für seine Refotografien klischeehafte Werbebilder wie den
Marlboro-Cowboy oder sexistische Abbildungen aus Motorradzeitschriften
verwendete, sieht Stefan Römer dies auch als Resultat einer schon medial
geprägten Biografie: Prince spricht
stellvertretend für die erste Generation, die mit dem Medium Fernsehen
aufgewachsen ist. Er meint, dass die Menschen zu den entsubjektivierten
Darstellungen in den Medien ein engeres persönliches Verhältnis entwickelt
hätten als zu den für sie unerreichbaren originalen Persönlichkeiten im
alltäglichen Umfeld. Die Medienimages sind für ihn die wirklichen Originale.[2]
Auch wenn Prince den
Mnemosyne-Atlas sicher nicht gekannt hat, macht Römer in seinen Tableaus
direkte Parallelen zu Warburgs Vorgehen aus: Prince wendet eine Art ‘praktischer Ikonologie’ an, und die situiert
ein Bild oder ein Bildfragment immer in einem Kontext, der die Bezüge zu
anderen Bildern und Texten befragt. Das erinnert unmittelbar an den
‘Bilderaltlas’ von Aby Warburg. Die strukturelle Verwandtschaft zu Warburg
äußert sich darin, dass beide – anders als traditionelle Kunstkenner –
unterschiedslos mit Abbildungen der Populärkultur sowie der Kunst arbeiten.[3]
Heute erscheint
das selbstverständlich, aber die Einebnung der Unterschiede von High und Low
wurde einst als ebenso skandalös empfunden wie die Tatsache, dass Marcel
Duchamp seine Ready Mades nicht selbst hergestellt hat. Mittlerweile konnten
Künstler wie Fischli & Weiss die Kunstwelt dadurch irritieren, dass sie
scheinbar gesammelte Objekte aufwändig selbst herstellten. Boris Groys schreibt: Die Freiheit des Künstlers wurde
traditionell als Fähigkeit verstanden, neue Formen in die Welt zu setzen, und
wurde deswegen höher eingeschätzt als etwa die Freiheit eines reichen Sammlers,
schon existierende Bilder zu appropriieren, das heißt zu kaufen. Der Künstler
der Appropriation gibt seine künstlerische Freiheit der Kreation auf und
tauscht sie ein gegen die minderwertige Freiheit des Sammelns.[4]
Aber dass Künstler diese scheinbar geringe Freiheit immer mehr schätzen, ist
schon deshalb eine folgerichtige Entwicklung, weil Kunstsammler heutzutage fast
mehr Anerkennung genießen als die Künstler selbst.
Artists
as Image Collectors
There
is hardly anything that isn’t collected: stamps, old coins, porcelain
elephants, cuckoo clocks or Barbie dolls. Collectors seek out, find and acquire
the individual items of their collections over years or decades, sometimes
through systematic research, sometimes through chance discoveries. But it is
contradictory to collecting, and doesn’t usually occur, when a collector
produces the collected items himself. If a shoemaker collects shoes he has not
made, then perhaps historical shoes from the eighteenth century, long since out
of production.
Art
has also been collected for a long time. The most extensive collections were
for many years art and curiosity cabinets, in which a wide variety of objects
were brought together, including paintings and sculptures. Gradually,
collections focusing on pictures came about. Princes or wealthy private
citizens built up large collections of paintings. Those with smaller budgets
specialised in drawings or prints. The collection of prints could itself concentrate
on a specialist field: engravings after paintings and other artistic
masterpieces.
When
I began to become interested in art I quickly became a descendent of this last
category. I didn’t collect engravings but art postcards, of which I now possess
well over 10,000. This is enough for me today, but it used to rankle very much
if one or another beloved artwork was missing. With my modest talent for
drawing I initially began tracing or copying reproductions from books,
something I found pretty childish in my adolescence.
I
was never a particularly good photographer, but some of my own underexposed or
colour-casted photographs, taken in museums from the original, ended up in the
collection for a while, before being withdrawn. Well-made photographs, however,
could achieve the status of fully fledged collector’s items. Ultimately, the
art postcard is one of the countless results of the invention of the camera.
Artworks can be simply photographed, reproduced any number of times and placed
side by side in the same format independently of the size of the original;
Andreé Malraux saw this as an ‘imaginary museum’.
As
Walter Benjamin nicely put it, photography sharpens the ‘sense of similarity’.
Through placing photographs and reproductions based on photographs from various
sources side by side, something like similar structure comes into view. This is
fundamental to the most complex ‘imaginary museum’ ever conceived: the famous
visual atlas Mnemosyne, which the
Hamburg cultural scientist Aby Warburg left unfinished on his death in 1929.
Through the compilation of numerous thematic tableaux Warburg attempted to
follow particular depictive motifs, gestures or details – such as the animated
lines in the painted portrayal of clothing – as a kind of social memory across
epochs and cultures. When the same motif appears in quite different places,
unexpected relationships arise between similarities. On the other hand motifs
change, and the same gesture can alter its significance over time, even to the
point of complete inversion. So the sense of dissimilarity is also sharpened
through differences being revealed in the apparently identical.
Warburg
saw himself as an academic and not as an artist, even though art historians
sometimes interpret him in this way. As a cultural researcher, Warburg became a
collector of images, and he is seen by many as a forerunner of later artists
whose work is based on collections. The Mnemosyne
atlas, in particular, seems to point the way towards an art movement or genre
that has gradually established itself since the 1960s and in fact consists in
developing forms for the exhibition of collected material. Although objects of
very different kinds are accumulated into rich tableaux or installations, as
with the nouveaux réalistes in France as early as 1960, the connection to
Warburg’s atlas should obviously be made in relation to a tendency that is
articulated in a wide variety of forms and can roughly be labelled the
‘photographic collection’. Found photographs or reproductions of photographs cut
out of newspapers, magazines or books, taken by the artists themselves or,
since the advent of the Internet, drawn from the digital universe are presented
in strict seriality or in highly unusual combinations and arrangements.
The
spectrum ranges from Bernd and Hilla Becher’s systematic photographic archiving
of disused industrial buildings, the Section
Publicité on the motif of the eagle in Marcel Broodthaers’ bogus museum of
modern art, Gerhard Richter’s extensive collection of photographs, Atlas, or Christian Boltanski’s fictive
photographic reconstruction of his own childhood to Hans-Peter Feldmann’s
devotion to the everyday photographic output of amateurs.
Many
artists, as Wolfgang Ullrich writes in his afterword to a book of texts by the
art collector Harald Falckenberg, have ‘also long since become collectors (and
consumers)’: ‘instead of producing images, they use found footage, rearranging
it, additionally processing it or putting it in surprising contexts.’[5]
This
particularly applies to American appropriation art, which around 1980 further
developed the adoption of ‘foreign’ visual material into a programmatic
‘post-modern’ subversion of traditional models of originality and authorship.
When Richard Prince, for example, uses clichéd commercial images such as the
Marlboro cowboy or sexist reproductions from motorcycle magazines for his
‘re-photographs’, Stefan Römer sees this as the result of a biography already
influenced by the media: ‘Prince speaks for the first generation that grew up
with the medium of television. He says that people have developed a closer
personal relationship to the de-subjectivised portrayals in the media than to
the unreachable real personalities in their everyday environment. For him,
media images are the real originals.’[6]
Even
though Prince certainly didn’t know the Mnemosyne
atlas, Römer sees direct parallels to Warburg’s procedure in his tableaux:
‘Prince makes use of a kind of “practical iconology”, and this always situates
an image or visual fragment in a context that questions its relationship to
other images and texts. This directly recalls Aby Warburg’s “visual atlas”. The
structural relationship to Warburg is expressed in the fact that – unlike
traditional art connoisseurs – neither practitioner discriminates between
reproductions from popular culture or art.’[7]
Today
it seems obvious, but the levelling of the differences between highbrow and
lowbrow was once felt to be as scandalous as the fact that Marcel Duchamp
didn’t produce his ready-mades himself. Meanwhile artists like Fischli &
Weiss have annoyed the art world by elaborately producing objects that look as
if they had been collected. Boris Groys writes: ‘The freedom of the artist is
traditionally understood as the ability to put new forms into the world, and for
this reason it was valued more highly than the freedom of a wealthy collector,
for example, to appropriate, that is to purchase, already existing images. The
artists of appropriation abandons their artistic freedom in exchange for the
more inferior freedom to collect.’[8]
That artists are increasingly coming to value this apparently lesser freedom is
a logical development of the fact that today’s art collectors enjoy perhaps
even more recognition than the artists themselves.
Translation: Michael Turnbull
[1]Harald
Falckenberg: Aus dem Maschinenraum der Kunst – Aufzeichnungen eines Sammlers. Hamburg 1987, p. 351.
[2]Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik
von Fälschung und Original. Köln 2000, p. 135.
[3]Ebd, p. 146.
[4]Boris
Groys: Der Selbst-Sammler, in: ders.,
Kunst-Kommentare. Wien 1997 pp. 117 – 130, hier: p. 118.
[5]
Translated from Harald Falckenberg, Aus
dem Maschinenraum der Kunst. Aufzeichnungen eines Sammlers, Hamburg 1987,
p. 351.
[6]Translated from
Stefan Römer, Künstlerische Strategien
des Fake. Kritik von Fälschung und Original, Cologne 2000, p. 135.
[7]Translated from
ibid., p. 146.
[8]Translated
from Boris Groys, ‘Der Selbst-Sammler’, ibid., Kunst- Kommentare, Vienna 1997, pp. 117–130: 118.